Bernard Ginsbourger

„Träume des Rausches“, so der Titel des Liederabends, den Sonja Stephan und Yung Qi Wong am 19. April vor einem trotz überraschendem Frühlingswetter zahlreich im Konzertsaal  des/unseres Leibnizhauses erschienenen Publikum vortrugen, das von beiden Künstlerinnen schnurstracks in entferntnahe Universen magisch entführt war. 

Traum und Rausch, zwei Qualitäten des menschlichen Bewußtseins, die sich in der Kombination steigernd, durch Sonja Stephans sofort einnehmende Stimme und Xung Qi Wongs ebenbürtiger Begleitung klanglich gebündelt und zum Strahlen gebracht werden.  Von der warmen, imaginativen, energieberstenden, facettenreichen, raschster Stimmungsumschwünge fähigen Stimme.  Vom katalysierenden pantherartigen Aufschnappen  und oft feuerwerksähnlichen Anzünden von Klaviertönen durch Yung Qi Wong, die fein hinhörend und gleichzeitig ungemein lebhaft, spontan, den Monolog sanft und präzise unterstreichend oder zum schlagfertigen Dialog unverzüglich auffordernd, die Expressivität der sonoren Farben ihrer Partnerin noch erhöht.

… Es folgt eine Reise in die „tiefsten“ Innenwelten deutscher Romantik und Spätromantik mit Werken von Schumann und Strauss, nur oberflächlich etwas ähnliche und dennoch in ihrer Melancholie und eigener Bi- bzw. Multipolarität so differenzierte seelische Landschaften, in denen Sonja Stephan und Yung Qi Wong in gemeinsamer Diktion reine, temperamentvolle Träumereien abwechselnd frisch und hell erblühen und unterschiedlich verdüstert abbeben/abebben lassen.  Auch und für meinen Geschmack überragend interpretiert die schon relativ knapp gehaltenen lyrischen Bögen in Alban Bergs „Sieben Frühen Liedern“, bei denen ganze Atmosphären textgetreu in prägnante Tonschritte verdichtet gespiegelt werden.

Nach dieser üppigen, farbenfrohen, subtil empathischen Wanderung in nach aussen gekehrte teutsche Introversion mit hie und da versteckter Selbstironie -und einer für beide Interpretinnen gut verdienten Pause- folgt eine Exkursion in ganz andere Gefielde, zunächst jenseits des Rheins. Den Übergang liefern beide Poetinnen mit einem  vielleicht noch nicht ganz gedämpften En Sourdine von Debussy, einladend zu schönen halbwirklichen Harlekinaden, sich fortsetzend  unter einem irrisierenden Clair de Lune. 

Nachtstimmung –  aber : ob nun ein Kind -wie von  Sonja Stephan angekündigt- wirklich in den Schlaf gewiegt hätte werden können beim weiteren Programmverlauf, bleibe hier dahingestellt. Ja zuweilen sanft, aber immer wieder so witzig aufdrehend der Gesang in Poulencs La courte Paille! Zwar ähneln sie den Bewegungen eines heiter bewegten Traums,  die sprunghaften Assoziationen von Carêmes Reimen: on saute si allègrement du coq à l’âne! Der Klangrausch in solchen Träumen würde nun jede sedative Potion aus den so lustig besungenen mutterkindlichen Karafons aus der surrealistischen Accessoirenkammer des Dichters – einer von den vielen Höhepunkten des Abends – unwirksam machen. Definitiv wach geworden wäre auch jeder noch so müde Einschlafkandidat bzw. Tiefstschläfer bei der Interpretation von Barbers ebenso nocturnen Liedern, in denen die Stimme der Sängerin gar ohne die Hilfe der ägyptischen Mittagssonne in einem energetisch nicht zu überbietenden Crescendo ganze Pyramiden  in Brand steckt und versengt. Eine gleißend heißhelle Nachtsonne. 

Der zweite Teil des Abends, zusammengefasst : ein leises Raunen verschmitzter Gestalten bei Debussy,  ein immer deutlicheres Schmunzeln bei Poulenc, eine wunderbare Humorpause mit Barber, und zum Schluss die Kabarettstücke eines Bolcoms, die den zunehmend sprühenden Witz der vorigen Stücke um eine wenigstens quadratische Potenz verstärken, schallendes Lachen des Publikums, langer fröhlicher Applaus und zwei wunderbare Zugaben.

Was trägt mehr zur  Qualität dieses Liederabends mehr bei, fragt sich abschließend der Musiker.  Die Konzeption dieses dichten Programms mit seinen vielen Bezügen ? Cette diction impeccable dans les trois langues, wie formbedachte Franzosen betonen würden, die die vielen  Bedeutungen und Konnotationen der einzelnen Wörter erblühen läßt ? Die  musikalische Kondition der Interpretinnen,  die den Tonfluss ad libitum beschleunigen oder bremsen, reduzieren oder verbreitern können ? Ihre profunde Kenntnis verschiedenster Stile ? Ihre innige Lust am Vortragen ? 

Magie der Schwingungen,  die so viele Emotionen und Fragen über Faszien und Herz transportieren können.